GUTACHTEN UND DIAGNOSEN - JA ODER NEIN?
Lernen, lernen, lernen
Wenn das viele Üben keine Besserung zu bringen scheint, die Hausaufgaben regelmäßig zu einem Familiendrama werden und ein Diktat zum Grund für Tränen und Bauchschmerzen wird, dann stellen sich Eltern irgendwann unweigerlich die Frage nach einer Diagnose „Was verdammt nochmal stimmt hier nicht?“
Sie wünschen sich eine Diagnose, anschließend ein Gutachten, mit dem man bei Behörden, Ärzten und Institutionen vorstellig werden kann und letztendlich konkrete Leitlinien und einen wissenschaftlich fundierten Plan, mit denen sie ihrem Kind endlich helfen können. Es ist beruhigend zu erfahren, dass man nichts falsch gemacht hat. Eine Diagnose gibt Sicherheit.
Aber eben nicht immer.
Liebe Eltern,
für ein Kind kann eine Diagnose ein riesiger Steinbrocken sein, der vom Herzen fällt und die lang gehegte Frage beantwortet „Warum habe ich solche Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, obwohl ich mich doch so sehr bemühe?“
Doch nicht alle Kinder sind gleich. Vielleicht ist genau Ihr Kind eine Persönlichkeit, die sich von nun an fühlt wie mit einem Stempel auf der Stirn.
Eine Diagnose, ist sie erst einmal geschrieben, verschwindet nicht mehr ohne Weiteres aus einer Akte. Papier ist geduldig, wie man so schön sagt.
Deswegen bitte ich Sie, liebe Eltern, von Herzen ganz genau abzuwägen, ob Sie dieses „Schwarz auf Weiß“ tatsächlich wünschen. An meiner Arbeit mit Ihrem Kind ändert sich nichts. Aber vielleicht ändert es etwas in Ihrem Kind.
Bedenken Sie beim Lesen jedoch, dass Schwierigkeiten beim Lernen mindestens so individuell sind wie der Mensch selbst!
Warum sehe ich Diagnosen kritisch?
Wenn ein Gutachten und eine daraus gezogene Diagnose keinen Einfluss hat auf die Förderung des Kindes, sollte man sich immer die Frage stellen, ob diese Diagnose tatsächlich eine Notwendigkeit darstellt.
Diagnosen sind für Kinder immer eine besondere Stresssituation. Sie merken, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Sie kennen die Begriffe, sie kennen die Wege zum Arzt und ihnen ist bewusst, dass dies in den meisten Fällen bedeutet: Hier ist ein Fehler, der behoben werden muss. Hier handelt es sich um eine Krankheit, gegen die etwas unternommen wird.
Damit vermitteln wir Kindern jedoch tatsächlich, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Und ich bin ein absoluter Verfechter eines anderen Ansatzes: Nämlich zu sagen, wenn die Diagnose keinen Einfluss auf meine Förderung hat, dann kann ich die Diagnose auch weglassen, und dem Kind so eine große Menge an Stress und viel Zeitaufwand ersparen!
Nutzen wir stattdessen die Zeit, um bereits mit der Förderung zu beginnen!
Es gibt wenige Ausnahmen und ich betone WENIGE Ausnahmen, bei denen eine Diagnose tatsächlich Einfluss hat auf eine individuelle Förderung. Dies trifft beispielsweise zu bei einem stark ausgeprägten ADHS-Syndrom, bei dem in manchen Fällen eine gute Dosierung der Medikamente positiven Einfluss haben kann auf die Konzentrationsfähigkeiten und die Leistungen eines Kindes.
Ich betone hier ausdrücklich Ausnahmen, denn was ich immer wieder erlebe, ist, dass die Diagnose „Lese- Rechtschreibschwäche“ beispielsweise gar nicht hätte gestellt werden müssen: Wenn man anhand der Ergebnisse des Kindes bereits eindeutig sieht, dass hier Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben vorliegen, dann handelt es sich wohl um Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Also um eine Lese-Rechtschreibschwäche.
Ich bedauere sehr, dass die Schule diese Ergebnisse nicht als Anlass nimmt, um direkt in die Förderung einzusteigen und stattdessen eine lange Prozedur nahelegt, in der dem Kind immer mehr das Gefühl gegeben wird, dass es an seiner Situation nichts bis kaum etwas ändern kann. Dieses Signal ist jedoch definitiv das falsche Signal! Denn die Kinder mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben können in den allermeisten Fällen, das ist meine tägliche Erfahrung, sehr viel an ihrer Situation ändern. Doch sie brauchen ein Umfeld, das gemeinsam mit ihnen an einem gemeinsamen Ziel arbeitet.
Ein Kind mit Lern-Leistungs-Problemen Kind benötigt ein Umfeld, welches systematische und erfolgsorientierte Förderung anbietet.
Und dies, liebe Eltern, können Sie in die Hand nehmen, auch ohne eine Diagnose, auch ohne Gutachten und auch ohne Unterstützung der Schule!
Nehmen Sie die Sache in die Hand! Sie als Eltern tragen ganz viel Selbstwirksamkeit in sich, indem Sie sagen
• „Nein, wir akzeptieren es nicht, dass die Schule keine Förderung anbietet!“
• „Wir packen es an!“
• „Wir suchen nach Möglichkeiten!“
• „Wir suchen nach Lösungen und nach Ressourcen und nehmen Zuhause in die Hand, was unser Schulsystem nicht leisten kann.“
Ob Gutachten und Diagnosen dabei unterstützend zur Seite stehen, wenn es darum geht, Ihrem Kind tatsächlich zu helfen, wage ich zu bezweifeln.
Werfen Sie stattdessen einen Blick in den Artikel „Rechtschreibfehler ist nicht gleich Rechtschreibfehler“ und beginnen Sie selbstständig mit der ersten Analyse der Fehler Ihres Kindes.
LRS-Diagnosen bei Mehrsprachigkeit
Immer häufiger begegnen mir LRS-Diagnosen bei Kindern, deren Mutter- oder Familiensprache nicht Deutsch ist. Auch diese Entwicklung lässt mich ehrlicherweise ratlos zurück. Denn in meinem Verständnis bedarf es keiner Diagnose, wenn ein Kind, das mehrsprachig aufwächst, nicht in allen Sprachen auf dem gleichen Stand sein kann wie ein Kind, das sich bis dahin nur mit einer einzigen Sprache befassen musste.
Um Kinder, deren Zweit- (oder manchmal sogar Dritt-) Sprache Deutsch ist, besser unterstützen zu können, ist bei Wachsenlernen das Internationale Klassenzimmer entstanden: Materialien für den Regelunterricht Deutsch, in denen jedoch Fachbegriffe und Erklärungen zusätzlich auf Englisch, Französisch, Arabisch oder Ukrainisch enthalten sind.
Wenn Sie sich für das Thema Mehrsprachigkeit interessieren oder sogar selbst „betroffen“ sind, dann könnte Sie dieser Artikel interessieren: Mehrsprachigkeit und LRS.
DIE DIAGNOSE IHRES KINDES ENTZIFFERN
Halten Sie zufällig gerade eine Diagnose in Ihren Händen und fragen sich, was Sie mit diesen ganzen Zahlen anfangen sollen?
Melanie Knapp (Lerntherapie und Elternberatung in Heidelberg) erklärt anschaulich und verständlich, was ein LRS-Test beinhaltet, welche Werte Sie kennen müssen und was sie bedeuten.

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In 5 Schritten vom Lesemuffel zur Leseratte
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Werden Sie zum Experten für Ihr Kind
Um Entscheidungen zu treffen, braucht es Wissen!
Folgen Sie Ihrer Intuition, wenn bei Ihnen ein komisches Gefühl aufkommt, sobald Sie an das Thema Schule denken.Irgendetwas stimmt hier nicht!
Um komische Gefühle jedoch einordnen zu können, braucht es Informationen. Fangen Sie an mit diesem Buch und verschaffen Sie sich einen Überblick über die verschiedenen Baustellen, die (manchmal auch unerwartet) mit einer Lese-Rechtschreibschwäche einhergehen können.
- 1. Finden Sie Worte für das, was schiefläuft.
- 2. Ein Buch hat Platz für Notizen über Erfolge oder Hürden.
- 3. Lassen Sie Ihr aktuelles Ziel aufgeschlagen auf dem Kühlschrank liegen.
- 4. So behalten Sie den Überblick über all die Punkte, die Sie interessieren.
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